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Torpedokäfer 1


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Heute sitzen wir zum ersten Mal nicht am Zweiertisch direkt am Fenster, sondern an einem etwas größeren in der Ecke. Weil es Herbst wird: da braucht man Platz für Jacken und Schals, und Paul für seine Mütze.
Zwei Stühle bleiben für uns selbst übrig, Paul setzt sich mit dem Rücken ganz ins Eck, damit sich keine schlechten Menschen von hinten anschleichen können. Ich setze mich lieber halb mit dem Rücken zum Eingang, damit ich die schlechten Menschen nicht sehen muss, falls noch welche kommen.
Dafür sehe ich jetzt den langen Tisch im hinteren Raum mit der Bank, die ganz lässig um die Kurve geht. Weiter hinten, fast schon in der Kurve, sitzt ein dünner Mann mit langen lockigen Haaren und bröselt Bierdeckel, manchmal schaut er auf die Uhr. Der arme wird versetzt. Rechts davon sehe ich den Eingang zu den Toiletten, ein dunkles Loch in der gelben Wand, sehr gefährlich, und einen Ständer mit Umsonst-Postkarten.
Und direkt vor dem Mauervorsprung, der unsere Ecke erst eckig macht, die Frau. Sie steht auf einem roten Sockel, so dass sie etwa einen halben Kopf kleiner ist als ich. Sie ist aus stumpfem Metall, man sieht ihren Rumpf, den Kopf, den Hals und die Ansätze von Armen und Beinen. Lange vor Knien oder Ellenbogen hören sie auf, die Beine sind an den Kanten auf einen Metallblock gestützt. Von meinem Sitzplatz aus sehe ich sie schräg von hinten, das Deckenlicht rutscht ihren Rücken herunter, die Vertiefung neben der Wirbelsäule entlang, bis es in ihrem leichten Hohlkreuz verschwindet.
Es ist immer ein wenig zu hell hier und ein wenig zu billig, darum kommen wir auch so gerne: man bleibt länger wach und kann länger trinken. Der Kellner ist klein und drahtig, wie ein freundliches Äffchen kommt er auf seinen Obeinen angeturnt und bringt uns eine Karte. Er hat sich den Kopf kahlrasiert, jetzt schimmert er im zu hellen Licht ein bisschen grünlich, wohl wegen der grünen glänzigen Kacheln an der Wand. Sein T-Shirt steckt in der Hose, so dass man die Schrift nur halb lesen kann, aber das Bild kann man sehen, zwei poppende Skelette.
Paul freut sich, freut sich über die Skelette, freut sich, weil das Hemd in der Hose steckt und auch, weil der Kellner so freundlich lächelt dabei, ganz ohne Häme, einfach nur schön findet er das, aber man darf ihm keinen Vorwurf machen: Paul ist verliebt.
Wirklich ungewöhnlich ist das nicht, aber zum ersten Mal seit langer Zeit ist er auch noch erfolgreich damit. Als ob Sommer wäre, bestellen wir uns Ricard, um das unerwartete Glück zu feiern.
Der linke Arm der Frau ist etwas angewinkelt, das ist aus der Schulter und dem kurzen sichtbaren Stück gerade noch zu erkennen. Auf dem Ende des Armes, auf ihren Brüsten und auf dem Kinn sitzen kleine stumpfe Lichtflecken.

Der lockige Mann in der Ecke hat alle Bierdeckel zerbröselt und zu einem ordentlichen kleinen Haufen geschichtet. Er trinkt Bier und wartet, schielt manchmal zu den Zeitschriften neben dem Eingang zum Klo, aber er will wohl nicht aufstehen, denn genau dann wird seine Verabredung kommen und ihn nicht sehen, sie wird denken, dass er genug vom Warten hatte, und er muss den ganzen Abend rumsitzen, wird später am Telefon herumschreien, grundlos, und sich hinterher entschuldigen müssen. Wenn er die Chance noch bekommt! Das ist keine abgelaufene Zeitung wert.
Auf den Schulterblättern der Metallfrau schimmert es, direkt daneben liegen tiefe Schatten, wie unten im Hohlkreuz auch.
Der Kellner bringt dem Mann in der Ecke ein neues Bier, und Paul winkt und lächelt, um ihn einzufangen, sein Ricard ist schon alle, meinen hat er schon zur Hälfte ausgetrunken. Doch der Kellner kommt nicht zu uns, weil Paul schon zu oft wild gestikuliert hat, er spült und kümmert sich nicht, ob wir Durst haben oder nicht. Ich bringe ihm unsere beiden Gläser, zeige ihm, wie leer sie sind, der Kellner sieht das Problem ein und schraubt sogar eine neue Flasche für uns auf.
Mit beiden Gläsern in der Hand drehe ich mich um. Paul baut auf unserem Tisch ein Bierdeckelhäuschen, es fällt immer wieder ein, aber er lächelt trotzdem. Ein hoffnungsloser Fall.
Die Frau hat eine gerade kleine Nase und einen ernsten Mund, noch jung, aber man kann schon sehen, wo sie einmal Falten haben wird. Ihre Beine sind ziemlich dünn, sie hören sehr weit oberhalb der Knie auf. Wie sie wohl weitergehen würden?
Beinahe lasse ich die Gläser fallen, als sich ihr ernster Mund verändert, ganz kurz zieht sie einen Mundwinkel hoch, kaum merklich, und schickt ein schiefes Grinsen zu mir.
Die Tür geht auf und lässt einen Schwall kalte Luft herein, Lichtflecken fliegen von den Glasfenstern in der Tür durch den Raum. Eine Frau in roter Jacke mit dunklen Locken zieht die Tür wieder hinter sich zu, die Lichtflecken huschen zurück. Noch hat niemand die Lockenfrau gesehen, aber ihr Gesicht ist schon in Position ? wenn der Lockenmann von seinen Bierdeckeln aufblickt, kann sie ihn anlachen.
Die Metallfrau sieht genau so ernst aus wie vorher.

Der Lockenmann schaut immer noch auf die Tischplatte, als die Frau an seinem Tisch ankommt. Sie sagt etwas zu ihm, er hebt den Kopf und fängt an zu strahlen. Sie wuschelt ihm mit beiden Händen durch die Haare und lässt sich neben ihn auf die Bank fallen. Jetzt strahlen beide, er gibt ihr einen Kuss auf die Wange und umarmt sie ein wenig zu erleichtert ? nein, er hat überhaupt nicht lange gewartet. Sie trinkt von seinem Bier, bis der Kellner kommt.

“Weißt du, was das Beste an ihm ist?” fragt Paul. Ich weiß es nicht, aber natürlich will ich es unbedingt wissen. möglichst genau. “Das Allerbeste ist", sagt Paul, und trinkt seinen Ricard aus, “dass er", doch was Er dann macht, ist zwar beeindruckend, aber noch lange nicht das allerbeste, das fällt Paul in seiner Erklärung ein, er muss direkt danach das eigentlich Allerbeste erklären, aber auch im Vergleich dazu lässt sich noch etwas besseres finden, noch etwas, das besser zu Paul passt oder ihn perfekt ergänzt, und langsam beschleicht mich der Verdacht, dass Paul wirklich den allerbesten gefunden hat.
Ob das so gut für ihn ist, muss sich noch zeigen. Im Moment sieht er ein wenig angegriffen aus, mit Augenringen und strähnigen Haaren. Immer noch lächelt er versonnen vor sich hin, aber jetzt, wo wir ruhig sitzen, zittern seine Hände, und seine Haut sieht müde aus. Wir trinken einen Rotwein, weil das blutbildend ist, Paul hat seit vier Nächten und vier Tagen kaum geschlafen, gegessen auch fast nichts.

An den Tisch direkt in meinem Blickfeld haben sich ein Glatzenmann und sein Freund gesetzt. Der Glatzenmann hängt seine speckige schwere Lederjacke über seine Stuhllehne, er ächzt beim Hinsetzen. Sein Freund beeilt sich, über alle Witze zu lachen, die dem Glatzenmann zur Speisekarte einfallen. Als er hochschaut, bleibt sein Blick an mir hängen. Ich hasse dreckige alte Männer, die absichtlich dreckig grinsen, wieso sitzt Paul nicht auf meiner Seite des Tisches? Denke ich und rolle mit den Augen, lieber will ich irgendwo anders hinschauen, nicht auf die schlechten Menschen.
Die Haare der Metallfrau sind zu einem altmodischen tiefsitzenden Dutt gebunden. Nur eine ganz dünne Strähne hängt ihr in die Stirn. Ein Halswirbel steht aus ihrem Nacken hervor.

Aufstehen ist schwierig, meine Beine sind länger und weicher geworden, während ich gesessen habe, ich insgesamt größer, der ganze Raum unruhiger, und der Tisch meterweit weg, zu weit zum Abstützen. Ich stoße gegen einen Stuhl, und das lockige Pärchen in der Ecke reißt sich kurz voneinander los, um mich anzuglotzen und (gemeinsam) loszukichern. Alle werden denken, dass ich betrunken bin, wie peinlich das ist! Nüchtern wäre mir das garnicht peinlich. Nüchtern sein ist auch nicht so peinlich.
Oder hat jemand die Lautstärke hochgedreht? “War das jetzt wirklich so laut?” flüstere ich Paul zu, ganz leise, und er nickt, auch ganz leise, damit es niemand merkt.
Das schwierigste sind die ersten zwei Meter, ich muss um den Tisch biegen und um den Mauervorsprung, an der Frau vorbei. Ganz nah vorbeilaufen, als wenn nichts wäre; wenn sie Arme hätte, würden sie jetzt auf meinen Bauch treffen, wieso stellt sie sich so nah an die Leute ran, und sie würde wieder mit dem Mund zucken wie vorhin, hab ich das überhaupt nötig?
Als ich an ihr vorbei laufe, höre ich es zischen, “hey” sagt jemand direkt in mein Ohr.
Nicht darüber nachdenken, denke ich. Schnell gehen, um die lockigen nicht voneinander abzulenken, in den Durchgang, durch den dunkelgrünen Flur, in die rotgestrichenen Toiletten, und auf jeden Fall abschließen.
Im Spiegel sehe ich eigentlich noch ganz passabel aus, ein wenig angetrunken, ein wenig dunkel um die Augen, und die Haare ganz durcheinander, weil ich immer den Kopf abstütze, wenn ich Paul zuhöre. Wie der junge Schlingensief, eigentlich sollte ich immer so aussehen, denke ich, und trockne die Hände mit einem Papiertuch ab.
Wer faltet die Papiertücher in den Papiertuchspendern? Wieso Spendern? Das ist unwesentlich, aber wer faltet sie so, wer hat sich ausgedacht, dass man sie immer über Kreuz falten muss, so dass man nie ein einzelnes herausnehmen kann, ohne das nächste hinterherzuziehen? Wahrscheinlich die Leute, die Papiertücher verkaufen. Eine gute Übung zum Ausnüchtern: Papiertücher ziehen, bis endlich eines alleine herausrutscht und das nächste nicht schon frech rauskuckt. Hand-Augen-Koordination, sich noch einmal versichern, dass wir die Dinge beherrschen und nicht sie uns, und danach einen Kaffee?
Der halbe Spender ist leer, als es mir endlich gelingt. Stolz betrachte ich das letzte Tuch, sollte ich es als Trophäe aufheben?
Jemand hat mit blauem Kuli daraufgeschrieben: nimm mich mit.

Nicht einmal eine gute Postkarte finde ich im Postkartenständer; während ich suche, rempelt mich der Lockenmann an. Was wird der von mir denken, wenn er den Mülleimer voll unbenutzter Handtücher sieht? Er wird mich für einen Verschwender halten. Sieht man, dass ich ein Wessi bin?
Auf dem Rückweg kann ich den krummen Rücken des Glatzenmannes sehen, auch den Mann, der ihm gegenüber sitzt. Fieser Typ, fieser noch als der Glatzenmann selbst, die passen zusammen, denke ich, und will garnicht genauer hinsehen. Die Frau steht immer noch da und schimmert, ihre Arme sind nicht länger geworden. Von der Seite kann ich ihren Bauch sehen, ganz weich, ein ganz wenig ausgebeult in der Mitte, flacher an den Kanten der Hüftknochen. Wieso hat sie denn so einen weichen kleinen Bauch, wie kann man denn einen ausgeleierten kleinen Bauch haben und so schlank sein? Ob sie wohl schon ein Kind hat?
Wieder öffnet sie ganz leicht die Lippen, diesmal öffnet niemand die Tür, das kann nicht am Licht liegen. “Hey” sagt sie, ganz leise und kratzig, so dass es niemand hört.
Der Kellner grinst mich an. Ist der Typ doch nicht ganz so dümmlich, wie er tut? Weiß er Bescheid, was für eine Frau er hier auf einem roten Sockel stehen hat, die die Kundschaft belästigt?
“Du warss ja auch schon mal schneller", sagt Paul. Er sollte auch mehr trinken, keine halben Sachen, denke ich, und wir bestellen White Russian. Paul ist verliebt, und ich gönne es ihm ja so, der liebe Paul, und die Bierdeckel hat er alle in kleine Dreiecke gebrochen und in den Aschenbecher gestapelt, auf kleine Stapelchen, immer fünf aufeinander. Paul hat kein Aggressionsproblem, er ist einfach ein analytischer Typ, er nimmt gerne Sachen auseinander. Ob das sein Neuer schon weiß?
Der Lockenmann beugt sich hinter seinem Bierglas zur Lockenfrau, steckt die Nase durch alle dichten Locken und flüstert ihr etwas ins Ohr. Sie kichert und schüttelt seinen Kopf an den Haaren hin und her.
Sie werden es gleich tun, fürchte ich, richtig, plötzlich hält sie still, die beiden schauen sich einen Moment lang an, lächeln und küssen sich.
Als ob die Leute nichts anderes im Kopf hätten!!
Das Licht bleibt auf dem Hintern der Frau liegen, ein ganz kleiner fester Frauenhintern, deutlich abgesetzt von den Beinen. Wie passt das denn zum Bauch?

Pauls Neuer hat noch eine Menge anderer guter Eigenschaften. Wo er solche Leute immer nur findet, frage ich mich, ich lerne nie Leute kennen, die so rundherum gut sind. Ich lande immer bei den Spezialisten, die nur eine oder zwei wirklich überwältigend gute Eigenschaften haben, der Rest ist dann ziemlich durchschnittlich. “Weil du nicht mit Liebe hinschaust.” sagt Paul und nickt klug, in den letzten zwei Wochen ist er weise geworden. Diesmal hat er wohl recht.
Der Kellner dreht eine Runde und sammelt die vollen Aschenbecher ein. An unserem Tisch kommt er ins Grübeln, kneift die Augen zusammen, jetzt sieht man erstmal, wo überall auf so einem rasierten Schädel beim Denken Falten entstehen… aber dann nimmt er uns den Aschenbecher mit den Bierdeckelstückchen weg und knallt ihn auf den der Lockenleute. Die haben ihren schön vollgeraucht, nicht wie wir, wir kriegen aber keine Schimpfe, sondern einen neuen Aschenbecher, neue Bierdeckel und zwei neue volle Gläser.

“Weißtu, was dein Problem ist?” fragt Paul, und schlirft den Rest vom nächsten White Russian mit dem Strohhalm aus seinem Glas. “Dein Problem ist, dass du nicht weißt, wann das Glas alle ist.” sage ich, aber Paul lässt sich nicht ablenken. “Du verpasst einfach jede Gelegenheit. Wenn man mal wen braucht, muss man nur ne Weile dir zukucken, und wenn du früh nach Hause gehst, dann weiß man, da war was. Da muss man dann nur länger bleiben als du, du hast einen so todsicheren Instinkt, sowas hab ich ja noch garnicht gesehen.” ? “Und du verpasst nie was, weil dich nie jemand fragt.” Aber das stimmte ja nur bis vor zwei Wochen… ist das der Dank dafür, dass ich mir monatelang klaglos seine Klagen angehört habe? Und überhaupt, wer hat letzte Woche einen Zettel mit ZWEI Telefonnummern bekommen, eine auf der Vorder- und eine auf der Rückseite? Hm? “Den hast du aber verloren!” Da hat er recht; Paul ist manchmal ein wenig unsensibel, aber selbst für ihn kam dieser Kommentar eine Spur zu schnell und zu vergnügt.

Es ist kein Papier mehr im Spender, die letzten fünf Blätter drehe ich auf beide Seiten hin und her. Keine Nachricht, kein Wunder. Was hatte ich eigentlich erwartet?
Im Spiegel steht jemand, der wohl was erwartet hat; vielleicht, weil er vorher nicht in den Spiegel geschaut hat?
Ich schaffe es noch in die erste Kabine, kann mich nicht mehr um die Tür kümmern oder um den Glatzenmann, der ausgerechnet jetzt hereinkommen muss. Er schaut neugierig durch die halboffene Kabinentür. “Nana Kleiner, so schlimm?” fragt er, Speckstimme, sagt noch einmal “Nana…” und verschwindet wieder. Was wollte der eigentlich hier, wenn er nicht mal pinkeln muss?

Später wasche ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser, um mich für den Rückweg schön zu machen. Wer hätte denn auf die Papiertücher schreiben sollen? Warum habe ich denn weitergetrunken? Und warum schaue ich in den Spiegel, obwohl ich weiß, dass mir im Suff davon schlecht wird?
Mit einem Papiertuch aus dem Abfall trockne ich mir das Gesicht. Diesmal suche ich die Piratenpostkarte aus und die mit den Dinosauriern, irgendetwas muss ich Paul ja mitbringen.
Wieder dauert der Weg zwischen den Tischen durch sehr lange, am Anfang ist es zu hell, und wenn ich mich an das Licht gewöhnt habe, sehe ich als erstes sie. Mit diesem seltsamen altmodischen Dutt. Was hatte ich eigentlich erwartet, bei der Frisur?
Ihr Gesicht bleibt ganz ruhig. Wie soll ich sie denn einfach so mitnehmen, ohne dass es jemand merkt?
Der Glatzenmann will aufstehen, umständlich klettert er um seinen Stuhl herum, sucht in seiner Ledertasche nach etwas, streckt seinen dicken Hintern in den Durchgang, und ich muss stehen bleiben. Ich kann ihm nicht auf den Hintern starren, ich schaue nach links, und sie öffnet ein wenig den Mund, ganz wenig, und sagt leise mit ihrer Kratzestimme, ganz leise, ganz lieb, sehr ernst: bitte.

Ganz vorsichtig setze ich mich, nicht wieder an einen Stuhl stoßen, bloß keinen Krach machen, kein Geräusch, was dieses eine Wort aus dem Ohr spülen könnte.
Paul malt den Vögeln auf den Bierdeckeln Schnurrbärte und Seitenscheitel und summt leise. Kein Wort mehr von den verlorenen Zetteln, kein Wort, weil ich zu lange weg war. War das so lange? Meinem Zeitgefühl geht es schlecht, ich weiß nicht mehr seit wann. Ich möchte nach Hause gehen, zahlen und nach Hause gehen. Paul ist alles recht, er hat sein mildes Gesicht auf, jetzt, wo er mir die Erinnerung an sein früheres Gejammer heimgezahlt hat.
Die Frau dreht den Kopf in meine Richtung, schaut mich an, ohne zu blinzeln. In ihren Augen ist keine Farbe. Ich nicke, sage lautlos ja, ja, wie du willst, nur mit den Lippen, ich fürchte mich ein wenig vor diesen Augen ohne Pupillen ohne Iris, ohne Augen.
Als sie endlich ihren Kopf wieder abwendet, steht Paul schon an der Theke und bezahlt, er winkt, ich soll sitzen bleiben, und verliert beinahe das Gleichgewicht, weil er eine Hand von der Theke genommen hat.

Wir ziehen unsere Jacken an, Paul kriecht mit abgewinkelten Armen in seine Rucksackschlaufen rein, eine Hand bleibt immer auf der Stuhllehne. Der Kellner hebt den Kopf hinter der Theke und ruft tschöhö, schaut dann wieder in seinen Kritzelblock und in die Kasse, wundert sich.
Ganz selbstverständlich, so wie ich die Jacke zuknöpfe, gehe ich drei Schritte bis zum Mauervorsprung. Mit beiden Händen hebe ich die Frau an, setze sie auf dem rechten Hüftknochen ab und halte sie mit dem rechten Arm um die Taille. Der Kellner kritzelt weiter, kein anderer Gast scheint sich zu wundern. Mit fünf Schritten gehe ich bis zur Tür, nicht rennen, nicht trödeln. Ich stoße die Tür mit dem Fuß auf und schiebe mich seitlich nach außen, damit sie beim Zurückschwingen nicht auf die Frau fällt.
Sie sagt kein Wort.
Draußen ist es still geworden. Es riecht nach feuchter Erde und nach den Bäumen, die ihre Blätter nur noch aus Gewohnheit behalten. Noch ist es einfach nur kalt, eine normale Herbstnacht, doch in der Luft sind schon kleine eisige Punkte, die in der Nase brennen wie Kohlensäure, ganz harmlos, aber sie erinnern mich an den Winter.
Paul kämpft mit seinem Fahrradschloss, das sich aber nicht mit dem Haustürschlüssel aufschließen lassen will. Ich kann ihm nicht helfen, ich habe genug zu tun, die Frau zu balancieren und mit den Armen festzuklemmen, während ich mein Fahrrad vom Baum abschließe, nicht in Hundedreck trete, die Frau nicht fallenlasse, das Licht nicht einschalte. Fahren kann ich mit der Frau sowieso nicht.
Paul kann sein Fahrrad nicht aufschließen, wir beschließen zu laufen, das ist in unserem Zustand sowieso besser. Verliebt soll man nicht Fahrrad fahren, rate ich ihm, und schiebe mein Fahrrad mit der linken Hand neben ihm her. Er quengelt, jetzt wird er müde und muss bald ins Bett, und ich schiebe so eierig, wie soll ich auch mit einer Hand ein altes Fahrrad lenken und gleichzeitig das Gegengewicht zur Frau halten!
In der kalten Luft werde ich schnell wieder nüchtern. Die Spinnweben im Kopf werden beim Einatmen und Ausatmen zerrissen, die Spinnen selbst haben Angst vor der Kälte in meiner Nase, sie kriechen in meine Arme und Beine. Darunter leidet die Koordination ? ich weiß den Heimweg wohl wieder, aber ob wir ankommen werden? Paul scheint mir stabil, um ihn mache ich mir keine Sorgen.
Die Straßenlaternen werfen ein ganz weiches gelbes Licht auf die schiefen Steine. Im einzigen Café auf unserem Weg spielen drei Leute Darts, hinter den dicken Pflanzen im Fenster blinkt eine Lichterkette. Die Dartspieler und die Frau hinter der Theke öffnen und schließen ihre Münder wie Fische im Aquarium, ganz dick und aufgeblasen. Wenn ich eine Hand frei hätte, würde ich sie füttern.
An der S-Bahn verabschiedet Paul sich von mir, umarmt mich, ohne die Frau runterzuwerfen. Ich habe keinen Arm frei und muss ihn zwischen Kopf und Schulter einklemmen, statt ihn zu drücken, das scheint ihn nicht zu stören. So ein schöner Abend, das wollen wir bald wieder haben, oh ja bitte, aber einen Termin vereinbaren wir jetzt nicht, wir würden ihn vergessen. Und er wird so bald nicht anrufen, denke ich, denn er ist ja verliebt. Ich hätte da keine Zeit.
Trotzdem bin ich erleichtert, als er sicher die Treppe zur S-Bahn runtergefallen ist und mir aus den Augen kommt. Ich bin seinetwegen einen Umweg gelaufen, die Straße ist gepflastert und voller Schlaglöcher. Das Fahrrad bockt bei jedem Bordstein, will offensichtlich nicht mehr weiter. Zweimal fahre ich mir selbst gegen das Schienbein. Beinahe lasse ich die Frau fallen, als ich über eine geteerte Kante stolpere.
Die Frau sagt immer noch kein Wort, aber sie wird mit jedem Meter schwerer.
Auf der {Prenzlauer Allee} rutsche ich mit dem Vorderrad in eine Baugrube. Meine Ausgleichbewegungen werden immer lahmer, die Reizleitung runter in die Arme dauert einfach zu lange. Ich lasse das Fahrrad in den Sand fallen, soll es jemand mitnehmen, der beide Hände frei hat.

Auf der Treppe muss ich sie auf der linken Hüfte abstützen, die rechte Hand brauche ich für das Geländer. Vor ein paar Wochen noch wurde es um diese Uhrzeit doch schon hell?
Die Dunkelheit ist mir eigentlich ganz recht, man denkt, es wäre noch nicht gar so spät, und man muss die staubigen Topfpflanzen nicht sehen, die in den Fenstern auf den Treppenabsätzen vor sich hin sterben.
Im Flur trete ich mir die Schuhe von den Füßen, dann stoße ich mit dem Ellenbogen meine Zimmertür auf und setze die Frau aufs Bett. Sie fängt an zu kippeln, auf ihren Beinstummeln kann sie ohne den Sockel nicht stehen, also lege ich sie auf den Rücken. Die Vorhänge sind offen, im Mondlicht schimmert das Metall heller als unter den Glühlampen im Torpedokäfer. Ich lasse sie erst einmal liegen, damit sie Zeit hat, sich an das Zimmer zu gewöhnen.
In der Küche riecht es nach kalter Thunfischsoße und Gas. Ich trinke ein Glas Leitungswasser. Zwischen meinen Ohren zieht es ganz leise, das ist der Kater, der für morgen früh Anlauf holt.

Im Zimmer schalte ich kein Licht ein.
Ich bin kaum noch betrunken, nur unendlich müde. Meine Hosen rutschen von alleine herunter, als ich den Gürtel aufschnalle, sie wollen auch schlafen. Ich lasse alles auf einen großen Haufen auf dem Boden fallen. Der Pulli riecht nach kaltem Rauch, meine Haare auch, selbst meine Haut riecht nach Pauls Zigaretten und allen Zigaretten, die alle an diesem und allen anderen Abenden im Torpedokäfer geraucht haben.
Nur noch in T-Shirt und Unterhose setze ich mich auf die Bettkante und pelle mir die Socken von den Füßen. Meine Knie knacksen. Die Frau sagt immer noch kein Wort.
Ich schiebe sie ein bisschen mehr zur Seite und lege mich neben sie auf den Rücken. Die Bettdecke liegt an der Wandseite. Mit weit gebogenem Arm, um sie nicht zu berühren, greife ich über sie, ziehe die Decke über uns beide, so dass nur noch unsere Köpfe herauskucken. Ihr angewinkelter Arm hebt die Decke ein wenig an, kalte Luft kriecht an meinen Bauch. “Mach mal keine Löcher!", sage ich zu ihr. Sie reagiert nicht.
Ich bleibe auf der linken Seite liegen. Ihr Kopf liegt sehr hoch, die Metallhaare im Dutt geben nicht nach. So kann ich mein Kissen behalten, denke ich. Mein Oberschenkel stößt gegen das kalte Ende ihrer Beine. Mit Gänsehaut kann ich nicht einschlafen.
Sie lässt den angewinkelten Arm sinken. “Danke.” sagt sie, nicht mehr so leise wie im Torpedokäfer, immer noch kratzig. “Keine Ursache", sage ich, inzwischen auch ganz heiser und kratzig, ich sollte mich schämen für eine so dumme Antwort, aber ich bin zu müde zum Schämen, und mir ist zu kalt. Mein Bein, das gegen ihres stößt, zittert leise. “Hast du Angst?” fragt sie. “Nein, ich friere nur.” “Das wird gleich besser.” “Mhm” sage ich, ich mag nicht mehr nachdenken. Ich drehe mich auf die andere Seite und stoße mit dem Hintern an ihre eiskalte Hüfte. Ich friere durch den ganzen Rücken, aber langsam, um so länger ich liege, um so länger ich zittere, erwärmt sich das Metall, und irgendwann schlafe ich zusammengerollt neben ihr auf meiner Bettkante ein.

Von Gribulek am 5.5.2004